10. Dezember 2022
Endlich! Nach acht Monaten – Teil zwei des von allen extrem sehnsüchtig erwarteten Radflamingo-Candy-B.-Graveller-Dramas-Abenteuers! Viel Geächze! Geraffel! Zugfahrten! Sehr sehr viel Matsch! Eine wunderbare Begegnung! Das Schaltwerk-Scharmützel! Und: werden es die Radflamingos schaffen, allen widrigen Umständen zum Trotz, ihr Carepaket auf der VELOBerlin abzugeben? An dieser prominenten Stelle noch der Hinweis: Das Datum für den Candy 2023 steht! Los geht's am 1. Mai in Frankfurt. Ziel ist das Luftbrückendenkmal in Berlin am 6. Mai. Anmeldungen sind ab (irgendwann) Anfang nächsten Jahres freigeschaltet.
Der Zug bringt Quentin und mich bis Bad Langensalza, damit ich nach meiner Hotelübernachtung in Fulda wieder aufholen kann. Es ist grau und windig und kalt, aber da ich optimal equipped bin, kann ich die hübschen Schlängelwege entlang der Unstrut richtig genießen. Zumal es flach bleibt. Das nächste, an das ich mich erinnere, ist leicht welliges Ackerland. Und Wind. Sturm. Orkanböen – von hinten! Wenn Quentin Segel hätte, wären wir jetzt in Berlin. Die Böen drücken mich förmlich bergauf und fegen mich vorwärts. Prasselnder (Schnee-) Regen setzt ein. Mittlerweile habe ich ein weites Feld erreicht. Um mich herum – nichts. Unter mir – lehmiger, komplett aufgeweichter Boden.
Fahren ist nicht mehr möglich. Schieben aber auch nicht. Tragen? Selbst ohne Schlammschicht wiegt Quentin zuviel. Mit jedem Schritt sinken meine mittlerweile durchweichten Füße tief in den zähen, schweren Schlamm. Mit einem Schlotz-Geräusch und viel Anstrengung ziehe ich sie wieder heraus und drücke, ruckele, ziehe Quentin eine Reifenumdrehung, maximal, vorwärts. Dann muss ich (Dauerregen, Sturm, kalt, wäh) eine Pause einlegen, um die fetten Matschklumpen, die sich dabei an Felgen, Reifen, Tretlager, Ritzeln, Rohren und überhaupt überall festgeschlorrt haben, mühsam mit bloßen Händen wieder abzupopeln. Dann erneut: Ein Schritt, eine Reifenumdrehung, Schlamm entfernen. Kein Ackerende in Sicht, kein Quadratzentimeter fester Untergrund, nicht einmal ein Stock, mit dem ich die Lehmbrocken entfernen könnte. Noch drei Monate später sehen meine Finger aus wie die von E.T. und sind erst im Sommer wieder richtig sauber.
Kurz bevor ich anfange verzweifelt zu heulen und Quentin und ich forever im Schlamm versinken, erreiche ich einen Weg. Und der führt in einen kleinen Ort. Zivilisation! Ich bin begeistert. Hier liegen auch Zweige und ich säubere Quentin so gut ich kann. Es regnet auch nicht mehr! Ein Sonnenstrahl! Da, eine echte Straße! Ich kann weiterfahren! Mit neuer Kraft trete ich in die Pedale, biege in dem beschaulichen Örtchen Frömmstedt um eine Kurve und – BÄÄÄÄNG! Nichts geht mehr! Schaltwerk gesprengt. Das war zuviel Schlamm. Scheiße! Das war's dann wohl endgültig mit dem Candy.
Betrübt betrachte ich Quentin von einer Bank aus und checke auf dem Handy meine Optionen. Die sind extrem übersichtlich. Mir wird immer kälter, und als eine Frau aus dem Haus hinter mir tritt und mich fragt, ob ich nicht hereinkommen möchte, sage ich sofort dankbar “Ja”. Ich darf mich aufwärmen, frisch machen, trockene Socken anziehen und mit der ganzen Familie zu Abend essen. Das tut so gut und ich bin völlig überwältig von dieser Gastfreundschaft. Bei unserem Gespräch stellen wir außerdem fest, dass wir einen gemeinsamen Bekannten haben – jemand aus meinem Heimatort, mit dem ich seit dem ersten Schuljahr in einer Klasse war. Und dann: Familie S. sieht es als selbstverständlich an, mich (ziemlich verdreckt) und Quentin (völlig verdreckt) mit ihrem Bulli in das 20 Kilometer entfernte Candy-Camp zu bringen. Herzlichen Dank auch an dieser Stelle!
Am Candy-Flugplatz haben viele freiwillige Helfer für warmes Essen, Bänke und Schlafräume gesorgt. Ein Traum! Manche Candy-Pilot:innen treffen erst spät in der Nacht ein. Sie sind in der Dunkelheit und im Regen im Matschfeld stecken geblieben. Sie haben ihre Räder im Schlamm liegen gelassen, und die Fotografen sind mit ihrem Transporter nach Frömmstedt gefahren, um sie abzuholen.
Mein Glück geht weiter: Walter leiht mir nicht nur seine Wanderstiefel, weil meine nassen Schuhe trocknen müssen, sondern er und Buddy fahren mich am nächsten Tag nach Halle. Denn dort wohnt David. David ist einer meiner neun weltbesten Kollegen und hat eine Fahrradwerkstatt. Außerdem schafft er es, innerhalb weniger Stunden mir nicht nur ein neues Schaltwerk zu besorgen, sondern selbiges auch an Quentin zu montieren. Meine Weiterfahrt ist gesichert! Ich nehme den nächsten Zug nach Potsdam, übernachte dort bei C.s Bruder und kann am Samstag immerhin die letzten Kilometer ins Ziel rollen!
Die Strecke ist hübsch und flach und ein bisschen waldig und flussig, nur von einer Großstadt, der Großstadt, keine Spur! Ich kann doch gar nicht so weit weg sein! Hier muss doch irgendwo Berlin sein, bitteschön. Plötzlich höre ich meinen Namen. Kai! Er flitzt mit seinem braunen Open zu mir und teilt mir mit, dass wir in Berlin seien. Das Luftbrückendenkmal sei quasi um die Ecke. Ich kann das kaum glauben, aber Kai hat Recht. Und dann! Bin ich da! Obwohl ich ziemlich viel Zug gefahren bin und nicht alles ganz nach Plan geklappt hat, kann ich kaum fassen, jetzt am Ziel in Berlin zu stehen.
Es fehlen nur noch wenige hundert Meter bis zur VeloBERLIN auf dem Tempelhofer Feld. Diese wirklich allerletzten Meter fühlen sich fantastisch an. Endlich! Hier gebe ich mein Carepaket ab. Ein großartiger Augenblick! Auf Wiedersehen, Candy! Und hallo, Heißgetränk.
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Der Candy B. Graveller ist eine Bikepacking-Abenteuerfahrt entlang des ehemaligen Flugkorridors der Berliner Luftbrücke von 1948. Die Route führt 670 Kilometer und zirka 7000 Höhenmeter vom Luftbrückendenkmal in Frankfurt am Main bis zum Luftbrückendenkmal nach Berlin. Alle Fahrer:innen überweisen eine Spende an eine Institution, die sich für das Gedenken an die Luftbrücke einsetzt und transportieren ein Carepaket, das sie auf der VELOBerlin an das Kinderprojekt Arche ausliefern. Ein richtiges Fahrradabenteuer mit historisch-karitativem Hintergrund!