Der Candy B. Graveller (Teil 1)

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Der Candy B. Graveller ist eine Bikepacking-Abenteuerfahrt entlang des ehemaligen Flugkorridors der Berliner Luftbrücke von 1948. Die Route führt 670 Kilometer und zirka 7000 Höhenmeter vom Luftbrückendenkmal in Frankfurt am Main bis zum Luftbrückendenkmal nach Berlin. Alle Fahrer:innen überweisen eine Spende an eine Institution, die sich für das Gedenken an die Luftbrücke einsetzt und transportieren ein kleines Carepaket, das sie auf der VELOBerlin an das Kinderprojekt Arche ausliefern. Ein richtiges Fahrradabenteuer mit historisch-karitativem Hintergrund! Die Radflamingos sind all-in! Und haben außerdem, zusammen mit vielen vielen anderen, hinter den Kulissen daran mitgewirkt, den Candy 22 auf die Beine zu stellen.

 

Da geht's lang. (Grafik: Bernd Hallmann)

 

Vorher

Pressemitteilungen zu schreiben ist das eine. Fahren das andere. Doch erst kommt das Packen. In der Kategorie “Sage-wie-alman-du-bist-ohne-zu-sagen-dass-du-alman-bist” erhalte ich zehn Punkte. Ich habe nämlich ein Candy-Pack-Trelloboard angelegt, nach Taschen geordnet. Mit der Unterstützung von meinen Kollegen Gunnar und Josh (Profi-Equipment, Profi-Tipps, danke!) habe ich Quentin ein candytaugliches Set-Up verpasst, inklusive baumelnder Emailletasse an der Arschrakete. Sie gehörte zu den wenigen Dingen, die ich nicht gebraucht habe (so wie vier Ersatzschläuche, ein drittes Paar Handschuhe, ein zweites Baselayer-Top und Riegel). Wenn mir allerdings jemand Kaffee oder Glühwein angeboten hätte, ich wäre bereit gewesen!

 

Beladen mit Zelt, Isomatte, Schlafsack und sehr vielen Merino-Kleidungsstücken gegen Kälteschock.

 

Glühwein ist ein gutes Stichwort, denn während ich meine Frühsport- und Feierabendtouren aus Übungszwecken ausschließlich auf dem vollbeladenen Quentin absolviere, prognostizieren sämtliche Wetter-Apps Dinge, die niemand hören möchte, die demnächst fünf Tage auf dem Fahrrad und mit einem Zelt unterwegs ist. Von starken Sturmböen ist die Rede, von einem Temperatursturz und von Regen. Sehr viel Regen. Ich bin extrem nervös. Die anspruchsvolle Strecke! Zelten im Regen! Die Kälte! Ich bestelle mir vor lauter Panik rasch noch eine Merino-Helmmütze, Regenshorts, Thermoshorts und eine Thermos-Bidon, damit ich im Schneesturm heißen Tee schlürfen kann.

Tag 1: Kempen - Frankfurt am Main

Tatsächlich klatscht der Regen nur so herunter, als ich am fünften April, morgens um sechs Uhr im Dunkeln, mit Quentin Richtung Bahnhof aufbreche. Ich glaube, C. guckt ein bisschen mitleidig, aber auch einen Hauch bewundernd. Das erste Abenteuer, mit der Bahn von Kempen nach Frankfurt zu gelangen, bestehen Quentin und ich bravourös und müssen auch nur einmal sämtliche Vordertaschen abbauen, um vorschriftsmäßig eingehakt vorschriftsmäßig befördert werden zu können. Am Treffpunkt, dem Terminal 4, gibt es Kaffee und Rührei und außerdem treffe ich zum ersten Mal viele Menschen live, denen ich vorher sonst nur auf Candy-Organisations-Zooms begegnet bin. Allgemeines Bike-Bewundern, Wetter-Orakelei und Set-Up-Gefachsimpel sorgen für einen hohen Lautstärke-Aufregungs-Pegel. 

 

Einmal mit Profis arbeiten!

 

Ich bitte Gunnar, einen Blick auf Quentin zu werfen. Vor allem die Foodpouches bereiten mir seit Wochen Kopfzerbrechen (Luxusproblemalarm!). Allein der Name. Snackbags? Naschtaschen? Egal, ich benutze sie zum ersten Mal und wie sie an meinen schmalen Lenker Platz finden sollen ohne mich beim Greifen oder Lenken zu stören, ist mir ein Rätsel. Gunnar zurrt beide Taschen mit einem Mini-Spanngurt und kleinen Abstandshaltern am Steuerkopf fest und clippt weitere Benzel an Lenker und Gabel. Ich kriege das nie wieder ab, dafür funktioniert es aber zum ersten Mal perfekt. Perfekt, Trelloboard sei Dank, ist auch der Inhalt: mehrere Riegel und Snickers an den Außentaschen sowie mein eigens kreierter Mix aus getrockneten Maulbeeren, Datteln, Gummibärchen und Cashewkernen. 

 

Die ersten Candy-Meter! Foto: Michael Vorbrüggen
 
Frankfurt am Main - Seligenstadt/Zellhausen: 78,5 km (441 Hm)

Große Fotosession am Luftbrückendenkmal und dann, endlich, der große Moment! Wir rollen los! Anfangs plaudere ich noch hier und da mit anderen Candy-Pilot:innen (von insgesamt 59 Starter:innen sind fünf Frauen dabei), aber schon bald bin ich ganz allein unterwegs. Kein Regen, Waldautobahn, es bleibt flach. Easy. Worüber habe ich mir vorher eigentlich so einen Kopf gemacht? Als ich eine Mini-Rampe hochschiebe, verabschieden sich die Schrauben meiner Cleats, aber das beeindruckt mich kaum. Das wird (in der Tat) meinen Candy nicht entscheiden. 

Als ich ankomme, knistert schon ein warmes Lagerfeuer und der Grill ist angeheizt. Ich baue einigermaßen souverän mein geliehenes Superminileichtzelt auf und shoppe im Edeka ein ausgewogenes Bikepackerinnen-Abendessen, bestehend aus Buttermilch, Salami, Cola und Schokolade. Außerdem teilt Markus (der ganz aus meiner Nähe stammt und den ich hier endlich wiedersehe) seine Grillwürstchen mit mir. Zufrieden sinke ich in meinen Schlafsack.

 

Heldenkurbel und Radflamingos erstmals auf einem Foto vereint.

 

Tag 2: Seligenstadt/Zellhausen - Fulda: 121,21 km (2.012 Hm)

Ein paar Sonnenstrahlen sorgen für Kitschmotive, als Markus und ich am nächsten Morgen den Main überqueren. Kurz darauf geht's los. Der Spessart und seine Hügel bringen mich ins Schwitzen. Ich hätte mich eventuell doch etwas intensiver mit dem Thema “Übersetzung” beschäftigen sollen. Außerdem ist Quentin einfach sauschwer. Ich schiebe. Es geht tatsächlich nicht anders. Ich schiebe fast jeden verdammten Anstieg. Und das sind ganz schön viele. Dafür ist der Spessart allerdings ganz hübsch. 

Bevor ich mich über Ortsschilder freue, die den Weg nach Linsengericht zeigen, stellt ein Weinberg, der Weinberg, mein bisheriges Bergauf-Ächzen in den Schatten. Glaubhafte Quellen versichern, dass einige Menschen den Weinberg sogar hochgefahren sein sollen. Selbiger hat auf gut 100 Metern übrigens eine durchschnittliche Steigung von 16 Prozent. Die steilste Stelle gibt Strava mit 23,7 Prozent an. Ich unterbreche mein Schieben ab und zu, um Snickers nachzutanken. Oben umkurve ich ein paar Schneereste und nach noch mehr wäldlichen Schiebeeinheiten erreiche ich Geiselbach. 

 

Von oben sieht der Weinberg am schönsten aus.

 

Hier gibt es eine Bäckerei, sagen Gunnars Roadbook-Aufzeichnungen, die aus kryptischen Zahlen und Buchstaben bestehen, und die er mit mir geteilt hat (danke nochmal!). Obwohl ich die fehlausche Nomenklatur kenne, verfahre ich mich zunächst und will in einer Seitenstraße drehen. Ich lenke zu eng, das Snackbag verhindert weiteres Einschlagen, mein Fuß bleibt in der Klickpedale hängen – bäm! Unschöner Asphaltkontakt. 

In dem Moment radelt Rolf vorbei und hilft mir, mich aufzurappeln. Ich bin etwas shaky und mein Oberschenkel dürfte dunkelblau werden, doch ich bin einsatzbereit. Oh nein! Quentins Bremse ist komplett verbogen! Das war's mit dem Candy! Ich bin kurz davor, loszuheulen. Wenn ich weder schalten noch bremsen kann, dann… In dem Moment radelt Markus vorbei. “Quatsch”, sagt er. “Das kann man alles zurechtbiegen.” Er biegt alles zurecht und sagt, wie ich zur Bäckerei komme. Dort schnaufe ich bei Croissant, Cappuccino und Cola erstmal durch.

 

Auftanken in Geiselbach.

 

Wohlgemerkt, ich habe erst 30 Kilometer hinter mich gebracht. Ich radele weiter und genieße steigungsfreie Abschnitte, liebliche Landschaften und besonders das niedliche Fachwerk-Örtchen Steinau an der Straße, durch das der Track mich führt. Hier lebten einst die Grimm-Brüder und schrieben ihre Märchen. Es gibt eine Froschkönig-Skulptur! Und einen Märchenbrunnen! Am Liebsten würde ich bleiben, doch ich fahre weiter. Ich will schließlich noch das Candy-Camp in Burghaun erreichen. Ich merke, wie langsam meine Kräfte schwinden. Das Schieben, der Sturz, die Höhenmeter fordern Tribut. 

Bei einem weiteren Cappuccino bei Kilometer 95 in einer Neuhofer Eisdiele beschließe ich, abseits des Tracks auf Radwegen und Straße weiterzufahren, um mein Tagesziel zu erreichen. Ich pedaliere irgendwann durch Fulda und stelle mehrere Kilometer nördlich dieser hübschen Stadt fest: ich kann nicht mehr! Ich bin durch! Leider sind Unterkünfte rar gesät. Ich pedaliere also im Dunkeln und bei fiesem Gegenwind zurück nach Fulda und checke ins nächste Hotel ein. Pizza bestellen, Bett. Gute Nacht.

 

Flache Waldautobahn = glückliche Radflamingos. Foto: Michael Vorbrüggen