#rideFAR180 Niederrhein galore

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Mit einem Orbit habe ich bereits vergangenen Sommer geliebäugelt, traute mich aber nicht so recht. Im März dann das neue “Orbit360°-season kick-off”. Maren postet, dass sie dabei sein wird. Klingt super. Ich melde mich auch an. Ist ja für einen guten Zweck! Jede:r Teilnehmer:in spendet einen beliebigen Betrag, der Bikeygees und der Ghana Bamboo Bike Initiative zugute kommt.

 

Vorbereitung – "Warnung vor extremer Kälte!
Ich verbringe die nächsten zwei Wochen damit, den Wetterbericht zu checken und eine Kälteneurose zu entwickeln, was ich mit Panikkäufen in Outdoorläden kompensiere. Kurz bevor ich auch noch eine Daunenhose ins Warenkörbchen lade, ist mein #rideFAR Tag gekommen. Endlich! Ich habe mir eine abwechslungsreiche Gravelroute zusammengestellt, die meinen geliebten Niederrhein (sowie ein bisschen Niederlande) hervorragend in Szene setzt. Woran ich hingegen kaum einen Gedanken verschwendet habe, ist mein Trainingszustand. Erstens kann ich “alles am Besten”, außerdem bin ich schonmal 250 Kilometer am Stück gefahren (2019) und habe den kompletten Winter Sport getrieben (Rudern und Bauch/Rücken mit der Fitness-App). Was soll schon passieren?

Kilometer 10 – Die Niesfähre
Die Sonne scheint! Mir ist warm! Ich darf den ganzen Tag Rad fahren! Enten schnattern und das Wasser glitzert, als ich an der Selbstbedienungsfähre in Wachtendonk ankomme, mit der ich Quentin und mich über die Niers setzen kann. Die Fähre liegt am anderen Ufer. Ich kurbele. Nichts passiert. Ich kurbele. Ankert das Teil da? Ich öffne meine Daunenjacke und kurbele weiter. Erfolglos. Keine Frage, die Fähre ist kaputt. Und wenn ich vielleicht mal in die andere Richtung drehe…?! Welch Schmach! Niemand darf je erfahren, wie dämlich ich mich anstelle! Sehr peinlich. Mein Kopf leuchtet rot, während ich über Feldwege pedaliere und auf der deutsch-niederländischen Grenze einem Rudel Rehe Vorfahrt gewähre.

Endlich können Quentin, der Flamingo und ich übersetzen

 

Kilometer 40 – De Maasduinen
Die erste Pause – unter Kiefern im Nationalpark De Maasduinen. Der einzige Vorteil dieser Temperaturen im niedrigen einstelligen Bereich: mein Snickers-Vorrat schmilzt nicht. Ich gravele mich über breite und schmale Wege, die an den Wochenenden kaum entspannt zu befahren sind, aber am heutigen Freitagvormittag spazieren hier nur wenige Menschen mit ihren Hunden entlang.

Menschenleere Maasduinen im Sonnenschein

Kilometer 67 – Der Reichswald
Seit Wochen freue ich mich auf den Reichswald. Warum weiß ich auch nicht so genau. Vielleicht weil ich als Kind hier auf Klassenfahrt und ich seitdem nicht mehr da war. Oder weil ich endlich mal neue Waldwege entdecke. Oder vielleicht ist es auch dieses “Die-Deutschen-und-ihr-Wald-Ding”. Egal. Gatter auf, Quentin und ich rein, Gatter zu. Wald. Stille. Spechte hämmern, Buchfinken, Rotkehlchen und massig andere Vögel umflattern mich. Ich sehe keinen Menschen, nur Spuren von riesigen Forstfahrzeugen. Tiefe, aufgeweichte Spuren, die ich nur schiebend bewältige. 20 Minuten später kicke ich an einem Holzstapel die feuchte Erde aus meinen Cleats und streiche Quentin ein paar Klumpen Matsch vom Rahmen.

Der.Wald.

 

Der Reichswald ist riesengroß (51 Quadratkilometer!) und featured dank eiszeitlichem Gletschergeschiebe sogar ein paar Berge (95 Meter!). Außerdem war er ziemlich genau 76 Jahre, bevor ich hier durchkurbele, Schauplatz der Operation Veritable im Zweiten Weltkrieg. Weit mehr als 10.000 Menschen kamen bei den Kämpfen ums Leben. Kurz nach dem Krieg wurde der Reichswald Forest War Cemetery angelegt – der größte Kriegsgräberfriedhof des Commonwealth. Ich nehme die Sonnenbrille ab und schiebe Quentin durch das kleine Törchen. Links und rechts zwei Türme, vor uns ein Rondell mit Sitzbank. Knallgrüner, perfekt gepflegter Rasen. Und zu beiden Seiten erstrecken sich die Grabsteine. Tausende. 7672 um genau zu sein. 19 Jahre. 21 Jahre. 34 Jahre. 20 Jahre. Ich muss weinen, weil es so ungerecht und grausam und sinnlos ist. Nach einer Weile fahre ich weiter und bin dankbar, dass meine größten Sorgen kalte Füße, gefrorene Snickers und ein niederrheinischer Berg sein dürfen. Nach dem giftigen Anstieg ist das mit den kalten Füßen übrigens auch schon wieder passé.

Hier reihen sich tausende Grabsteine aneinander.

Kilometer 100 – Die Düffel
Der Nordwind bläst. Von vorn. Obwohl ich nicht friere, immer noch nicht, freue ich mich auf den Moment, wenn ich Richtung Süden abdrehen kann. Doch zunächst brauche ich Cola, Kaffee und ein Mürbchen. Also: Helm ab, schicke Mütze ab, Merino-Kopfschutz ab, Stirnband ab. Maske an. Kaufen, zahlen, reinschlingen. Alles wieder anziehen. Weiter geht’s über die spiegelglatte Euroradbahn entlang der Draisinenstrecke und in die ziemlich baumlose, sprich windige, Düffel. Eine Marschlandschaft, charakteristisch für diesen untersten Teil des Niederrheins, geprägt von Kopfweiden, Hecken, Äckern und Feuchtwiesen.

In Zyfflich freue ich mich über die Störche und kurz bevor ich dann wirklich dem Wind den Rücken kehren kann, komme ich am Johanna-Sebus-Denkmal in Brienen vorbei. Auf der Klassenfahrt damals haben wir die Ballade gelernt, die Goethe ihr gewidmet hat, und die ersten beiden Zeilen (die anderen habe ich nämlich vergessen) rauschen non-stop durch meine Ohren: Der Damm zerreißt, das Feld erbraust, Die Fluten spülen, die Fläche saust. Bei einem Hochwasser hat die damals 17-Jährige ihre Mutter gerettet und ertrank, als sie weiteren Menschen helfen wollte.

Ich habe den Rhein erreicht.

 

Kilometer 126 – Louisendorf
Nach den Niederrhein-Highlights Schwanenburg (Kleve) und Schloss Moyland (Bedburg-Hau) passiere ich den viereckig angelegten Ort Louisendorf. Die Menschen sprechen hier angeblich einen komplett anderen Dialekt, aber leider treffe ich niemanden, um das verifizieren zu können.

Vor mir taucht jetzt der Uedemer Hochwald auf, den ich auf meiner Lieblings-Sonsbecker-Schweiz-Runde sonst immer nur von der anderen Seite sehe. Es könnte genauso gut der Himalaya sein. Da muss ich jetzt durch. Und über den Berg – den ich hochschiebe. Ich lutsche Snickers und mache ein letztes Foto, weil mein bescheuerter Handyakku noch kälteempfindlicher ist als ich. Schon in Kleve habe ich C. angewiesen, mir heute Abend Pizza Napoli ohne Oliven zu bestellen (groß) und ihn auf meinen sterbenden Handyakku aufmerksam gemacht. Bis dato habe ich mich nicht getraut, auf die Kilometeranzeige meines Wahoos zu schauen. Zu groß ist meine Angst vor einer niedrigen Zahl. Wenn ich aus dem Wald raus bin, gucke ich drauf, beschließe ich. Es kann nicht mehr so viel sein. Tatsächlich.

Der nächste Wald. Langsam wird mir kalt.

 

Kilometer 140 – Nördlicher Tüschenwald
Nur noch 46 Kilometer (denn meine Route umfasst vorsichtshalber 186 Kilometer)! Gleich kommt Sonsbeck. Ich bin quasi zuhause. Geht doch. Aber ich schwächele ein bisschen, raste auf einem Gipfel der Sonsbecker Schweiz, genieße den Sonnenuntergang, verspeise Mürbchenreste und magnesiumangereichertes Wasser. Ich ziehe mir wieder die Handschuhe und die Mütze an, außerdem ist jetzt Zeit für Licht. Ich rolle talwärts, als fünf Pfaue (!) über den Feldweg stolzieren und mir vorwurfsvolle Blicke zuwerfen.

Kilometer 156 – Fleuthkuhlen
Es bereitet mir kein Vergnügen, im Dunkeln durch Wald, Feld und Flur zu fahren. Ich sehe nix. Ich will so langsam nach Hause. Das hätte ich beim Planen beachten sollen. Als mich mein Wahoo auf einen extrem matschigen und tiefschwarzen Waldweg locken will, fahre ich einfach weiter geradeaus. Auf keinen Fall will ich in der Dunkelheit da langrumpeln und nicht vorwärtskommen. Ich beschließe, Geldern anzusteuern, das müsste ja in der Nähe sein. Ich vertreibe mir die zäh verstreichenden Minuten mit Gedankenspielen. Ich leide nicht wirklich, immer noch nicht, aber vielleicht könnte C. mich ja doch abholen?! Ach nee, mein Handy ist tot. Aber ich Fuchs habe ja ein Ladekabel dabei. Mir fällt ein, dass ich meine “neue” PIN-Nummer vergessen habe. Dann besinne ich mich auf unser Festnetztelefon – und versuche, mich vergeblich an unsere Nummer zu erinnern.

Hach. Hier war's noch hell.

 

Kilometer 162 – Geldern & Tanke
Eine Tankstelle! Sehr dankbar reiße ich mir sämtliche Klamotten vom Kopf, shoppe und verspeise Erdnüsse, Mezzomix und Wasser und schnaufe vor der Waschanlage durch. Geht schon wieder. Mich stresst der Gedanke, dass sich C. Sorgen um mich macht, weil ich mich nicht melde und dass mein Licht ausgehen könnte. Ansonsten lautet mein Plan (entgegen meiner ursprünglichen Route): Entlang der B9 nach Aldekerk düsen und dann Richtung Kempen abbiegen. Einfach entspannt treten, die 180 Kilometer dürften mehr als genau passen. Weiter!

Kilometer 175 – Aldekerk
Hometurf! Ich werd’s schaffen, ich werd’s schaffen! Das Gefühl beflügelt mich und ich trete noch beschwingter in die Pedale. Und endlich, kurz vor der A40-Brücke…

Kilometer 180 – Whoop Whoop
Ich drücke den Radflamingo in der Lenkertasche, klopfe Quentin aufs Oberrohr. Made it! Jetzt nur noch zirka 300 Meter bis zur nächsten T-Kreuzung, dann habe ich auch den Loop, die erforderliche Runde, geschlossen. 300 Meter später, an der T-Kreuzung, checke ich erneut den Wahoo, damit ich auch offiziell jubeln kann. Doch der Wahoo bleibt schwarz. Tot. Stehengeblieben. So eine gottverdammte **!

Kilometer 182 – Kempen  
Nach knapp 13 Stunden bin ich zuhause angekommen! Ich bin todmüde, meine Beine wackeln. C. und Batu servieren mir Pizza und Tee. Badewanne. Bett.

Ich bin sehr sehr glücklich. Und extrem stolz.

 

P.S.
Mein Wahoo hat die Fahrt Gott sei Dank gespeichert und der Nachwelt somit erhalten. Welch ein Glück!