17. Oktober 2016
C, ich und unser Gastsohn Micah haben die Herbstferien in Südfrankreich verbracht. Der Plan: sehr viel vin trinken, sehr viel essen, sehr alte Gebäude anschauen und dem Gastsohn ein bicyclette leihen und hübsch entspannt durch die Provence radeln. Mit uns auf den Rennrädern wäre das wohl ein bisschen zu flott. Also kamen Schnurri und Paula (C.s sonnengelbes Trail-Alltags-Cross-Rad) mit.
So ganz ist das Gastkind noch nicht mit unserer Fahrradmanie gesynct, also stiegen wir an einem windstillen, grauen Mittwoch gegen 13 Uhr allein ins Auto, um die Räder in Ventoux-Nähe wieder auszupacken und eine Tour um den Berg herum zu machen. C. hat diverse Strecken auf den Garmin gespeichert.
Aber eigentlich. Jetzt wo wir eh zu Zweit sind. Dann können wir doch. Wie wir ursprünglich wollten. Und plötzlich stehen unser Auto, wir und die Fahrräder in Bédoin am Fuß des sagenumwobenen Mont Ventoux.
Kilometer 20
"Bis zum Gipfel sind es 20 Kilometer", sagt C. Auch die Strecke bis nach oben steckt in seinem Garmin. Was das bringen soll, ist mir rätselhaft. Schließlich geht es nur geradeaus. Und hoch. Aber ha! 20 Kilometer sitze ich auf einer Arschbacke ab. Das ist eine äußerst übersichtliche Zahl.
Erstmal müssen wir aus diesem Ort heraus. Die Wolken (die den Gipfel übrigens komplett verhüllen) sehen sehr bedrohlich aus. Grau. Regenschwanger. Wir einigen uns darauf, bei Regen sofort wieder umzukehren. Wir legen außerdem fest, viele Pausen zu machen. Denn wir haben ja Zeit.
Kilometer 18
Das mit dem Kilometerfressen läuft. Zwar geht's bergauf, aber doch eher gemäßigt. Warm wird's auch noch, und wir entfernen Windjacken-Ärmel und ziehen Reißverschlüsse herunter. Vorsichtshalber naschen wir ein bisschen aus der XL-Studentenfuttertüte, die wir mitgebracht haben. Hungeräste gilt es schließlich zu vermeiden.
Ich kann kaum fassen, dass wir wirklich gerade dabei sind, den Mont Ventoux hochzufahren. Wir! Ob ich heute Abend tatsächlich stolz im Bett liege und es geschafft habe? Schwer vorstellbar, denn irgendwie sind wir dem Gipfel noch gar nicht näher gekommen.
Kilometer 16
Wir sind im Wald, und es duftet nach Kiefern. Inzwischen fahre ich auf dem kleinsten Blatt. Schnurris Bergübersetzung macht sich bezahlt, auch wenn ich mich wieder an den größeren Rollwiderstand gewöhnen muss.
Kilometer 15
Laut einem dieser weiß-gelben Kilometersteine am Straßenrand sind wir noch nicht mal auf 1000 Metern. Das betrübt mich. Zumal C. mir mitteilt, dass der Mont Ventoux 1900 Meter hoch sei und nicht wie von mir irrtümlich gedacht, 1600. Die ganze Zeit dachte ich: "Mensch, also genau wie den Brenner hochfahren und noch hundert Meter drauf. Geht doch." Jetzt denke ich: "Höhenkrankheit! Reinhold Messner! OHMEINGOTT!"
Kilometer 14
Pause, eine von vielen. Am Straßenrand ist dafür massig Platz. Aber ich bin viel zu fertig, um eine Parkbucht anzusteuern. Wir trinken und mampfen Nüsse gerade so weit rechts, ohne dass uns eins der wenigen vorbeikommenden Autos umfahren kann.
Kilometer 13
Die Radfahrer, die uns im Affentempo entgegensausen, bereiten mir Sorgen. Sie tragen Fleecemützen, Winterhosen, Gamaschen, dicke Handschuhe und haben ihre Bufftücher so weit ins Gesicht gezogen, dass sie fast ihre Brillen verdecken. Ist es wirklich so kalt da oben?
Kilometer 12
Mir ist jedenfalls sehr warm. Ich schnaufe. Ich trete. Ich denke. Zum Beispiel:
- Acht Prozent Steigung ist gar nicht so viel. Es ist nicht zweistellig.
- Was sind das für Rennradler, die ihre Energiegelpapiere einfach auf die Straße werfen?
- Ha, ich mache das komplett ohne Energieriegel, Ihr Pussis!
- Ich hätte allerdings schon gern einen.
- Wann beginnt wohl diese Mondlandschaft?
- Quäl dich, du Sau!
- Ich erzähl den jungen Leuten immer, das ist kein Hallensport.
- Wilfried Erdmann ist mit dem Fahrrad nach Indien gefahren. Völlig ohne Funktionswäsche.
Kilometer 11
Manchmal singe ich auch. Innerlich. Gerade habe ich eine EAV-Phase, die C. fast in den Wahnsinn treibt, wenn ich sie äußerlich auslebe.
- Mit meinem Nobelhobel fahr' ich auf der Autostrada. Einmal kurz auf's Gas und schon bin ich da-da.
Kilometer 10
Ich fahre immer weiter. Mir ist völlig schleierhaft, was mich antreibt. Motivierend finde ich jedenfalls den vollgetexteten Straßenbelag und die Tatsache, dass all die Großen genau hier drüber gefahren sind. Da steht zum Beispiel:
- DEGE! DEGE!
- Wij zitten hier! Hup!
- Kold øl, 150 meter!
- FroomEPOwer
- Stop Trump
- Sagan!
Kilometer 9
Einstellig! Dafür vierstellige Höhenmeter. Meine Erinnerung ist verblasst. Plötzlich taucht Chalet Raynard auf. Der Wald verschwindet, und vor uns entfaltet sich die unwirkliche Geröll-Landschaft dieses provenzalischen Klotzes. Wir bleiben kurz stehen, um Windjackenärmel wieder anzuzippen. C. schafft es trotz Kurzatmigkeit mich darauf hinzuweisen, dass die Tour de France dieses Jahr hier ihr Ende fand. Der Wind war so furchtbar stark, die armen Froomes und Sagans und Quintanas hätte es einfach in die weit unten liegenden Lavendelfelder geblasen.
Müsste ich nicht viel platter sein? Ich fahre schon mal, während C. noch an seiner Weste fummelt. DAS nenne ich Berg. Diese Felsen, der Ausblick (dank Nebel leider nur ansatzweise), diese Stangen an den Seiten. Ein Geräusch von hinten. Das wird C. sein. Mensch, der hat aber noch Körner, mich so rasch einzuholen. Ich blicke zur Seite. Ich will weinen. Ein Jogger sprintet an mir vorbei. Braungebrannt, hübsche Wadenmuskeln, nicht mal mit grimmig-verkrampfter Miene, nein, er hüpft locker-flockig-frohgemut hinauf.
Schon sehr viel näher
Wir machen noch mehr Pausen. Ich stelle mir vor, dass mich jede Kehre dem Gipfel näherbringt. Jede Kehre bringt Höhenmeter. Das sind doch jetzt schon, also mindestens... wenn nicht sogar...
Ganz nah dran, glaub ich
Es ist kalt. Der Nebel ist kalt. Mir ist kalt. C. ist mit Paula vor vielen Jahren schon einmal den Mont Ventoux hochgefahren. Im Sommer. Er berichtet in atemlosen, abgehackten Sätzen, über welchen Ausblick wir bei Fernsicht verfügen würden (Einen sehr schönen. Bis ans Meer).
Es kann nicht mehr weit sein
Ich sehe den Jogger als winzigen, neongelben Punkt über mir. Dann überholt mich ein Rennradfahrer. Ok. Der darf das. Dann überholt mich ein Typ auf einem E-Bike! Der Rennradfahrer, C. und ich schnaufen gleichermaßen frustriert-empört.
Tommy-Simpson-Gedenkstein
Hier machen wir natürlich eine Pause und legen einen Stein unter die Gedenktafel.
Nur noch 1 km
Das sind ja nur 1000 Meter! Das ist ja unglaublich nah! Das heißt, wir schaffen es wirklich! Der Nebel, die Kälte, die Knapp-Fünf-Meter-Sicht, die Stille – das sorgt für eine seltsame, unheimliche Atmosphäre. Wir haben keine Ahnung, wo wir sind. Wir sehen weder den Gipfel, noch die Straße, von der wir kommen.
Gelogen! Das sind mehr als 1 km
Es geht nicht mehr. Wir schieben. Wir schieben beide.
Le Gipfel!
Da! Da ist das Schild, das ich so gut von Fotos kenne! Ich sprinte mit Schnurri hin. Der Wahnsinn! Wir sind da!
Noch nie habe ich mich so unbändig über ein sportliches Ereignis gefreut. Doch ich will nur eins. Wieder runter. Scheiße ist das kalt! Der andere Rennradfahrer zieht sich gerade im flatternden Wind wärmere Klamotten über. Als wir mein Handy für das Beweisfoto zücken, sagt er, dass er extra auf uns gewartet habe, damit er fotografieren kann. Merci an dieser Stelle!
Wir drei beglückwünschen uns gegenseitig, wünschen uns einen bonne journée und nicht vergessen, vorsichtig runterfahren! So schnell wir können, bei Wind und 1°C, ziehen wir uns Mützen und Hemden an. Leider haben wir nur ein Paar Handschuhe. Sie gehören C.
Egal. Alles an, alles drüber. Ich trage ein Riesen T-Shirt von C. über meiner Windjacke. Das Bufftuch über der Nase. Die Kapuze meines Pullis hochgeklappt, darüber eine Fleecemütze. Nur bitte wieder runter. Los geht's. Ok. Wir einigen uns darauf, wirklich ganz vorsichtig zu fahren.
Bergab
Noch vor Tommy Simpsons Stein sind meine knallroten Hände komplett bewegungsunfähig. Ich würde gern höher schalten, weiß aber nicht wie und wo. C. ist ein Gentleman. Er gibt mir seine Handschuhe.
Und weiter runter. Ein bisschen blutet mir das Herz, dass wir jetzt so flitzen, so schnell die Straße hinter uns lassen, die uns vorhin schier endlose Quälerei beschert hat. Aber wow, ist das eine flowige Abfahrt! Die Kurven sind gut einsehbar, die Steigungen nicht so krass, dass man heftig in den Bremsen hängen müsste, der Verkehr, welcher Verkehr? Wenn mir ein bisschen wärmer wäre, dann wäre diese Abfahrt die perfekte Zehn.
Back in Bédoin
Genau dreieinhalb Stunden haben wir gebraucht. Dreißig Minuten hat die Abfahrt gedauert. Krass, bin ich also wirklich drei Stunden ununterbrochen bergauf gefahren? Egal. Es war der Wahnsinn und hat sich gelohnt. Allerdings ist uns so kalt, dass wir, im wahrsten buchstäblichen Wortsinn schlottern und mit den Zähnen klappern. Wir ziehen ein paar nasse Sachen aus, einen Kapuzenpulli über, ich hülle mich in die Decke ein, die immer im Kofferraum liegt. Dann stellen wir Umweltsäue die Heizung auf volle Pulle und fahren glücklich nach Hause. Au révoir, lieber Berg! A la prochaine fois!
P.S. Tiersichtungen
- Flamingos! In freier Wildbahn! Endlich! (Ganz eventuell nicht am selben Tag gesichtet) Zum Beweis jedoch ein Foto: